Der Walder Albert Tobias wurde heute vor 70 Jahren von Nazis ermordet. Das ST geht seiner persönlichen Geschichte nach.
Von Daniela Tobias
Es war die eigentlich einfache Geschichtsaufgabe meiner elfjährigen Tochter Noa, die im letzten Herbst eine Familienrecherche auslöste, die ein immer größeres Ausmaß annimmt. „Schreibe deine Vorfahren bis zu den Urgroßeltern auf“ – so lautete die Aufgabe für die 5. Klasse des Humboldtgymnasiums. Für meine eigene Familie gab es bereits einen Stammbaum, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, zusammengepuzzelt aus Kirchenarchiven. Auf Seiten meines Mannes indes gab es viele Fragezeichen, besonders zu seinem Großvater Albert Tobias.
Der jüdische Großvater Albert galt als verschollen im Ghetto von Lodz. An der Menzelstraße 15, dem früheren Wohnhaus der Familie, liegt heute ein Stolperstein mit den knappen Daten eines Lebens, das die Nationalsozialisten gewaltsam beendet haben. Aber es existierte kein Bild, keine Erzählung, keine familiäre Erinnerung. Das große Schweigen nach dem Zweiten Weltkrieg kennen viele Familien. Geschwiegen haben aber nicht nur Täter und Mitläufer, sondern vielfach auch die Verfolgten. Besonders diejenigen, die jahrelang in der Grauzone der sogenannten „Misch-Ehen“ lebten, die nie sicher sein konnten, wie lange und durch welches Verhalten der „arische“ Teil der Familie den jüdischen noch würde schützen können, wenn dieser selber ins Visier geraten würde.
Albert Tobias, den jungen Kaufmann aus Neuwied, hatte es im Ersten Weltkrieg in ein Lazarett im Bergischen Land verschlagen. Dort lernte er die evangelische Antonie Jacoby kennen. Nach der Hochzeit und der Geburt des ersten Sohnes eröffnete er 1920 ein Herrenbekleidungsgeschäft in Antonies Heimatstadt Wald, damals noch eine selbstständige Gemeinde im Kreis Solingen.
Diese geschäftliche Existenz, die auch einmal den Söhnen ein Auskommen sichern sollte, lag nach der reichsweiten Pogromnacht im November 1938 in Scherben. Albert wurde verhaftet und nach Dachau deportiert. In dieser bedrohlichen Situation traf Antonie eine folgenschwere Entscheidung – sie reichte die Scheidung ein. Das ist der Punkt, an dem alle Erzählungen abreißen.
Die Zeit der Zeitzeugen läuft ab. Mit einer Nichte von Albert, von der wir vor unserer Recherche nichts geahnt hatten, konnten wir noch telefonieren. Vor dem geplanten Treffen im Februar starb sie ganz plötzlich. Trotzdem ein beeindruckendes Erlebnis, jemanden sagen zu hören: „Onkel Albert war ein ganz lieber Mensch! Mein Vater hat ihn aus Dachau rausgeholt, er hat danach bei uns in Köln gelebt, bis er nach Lodz musste.“
Der Brief, in dem der jüngere Bruder Max sich für die Entlassung von Albert einsetzt, ist in der Gestapoakte im Landesarchiv NRW erhalten. Dort liegt ebenfalls die Entnazifizierungsakte von Eugen Kemper, aus der wir erfahren, dass der Steuerberater aus Wald nicht nur die Buchführung für Albert gemacht hat, sondern mit ihm befreundet gewesen ist. Das NS-Dokumentationszentrum in Köln teilt uns mit, dass es im Staatsarchiv Lodz Postkarten aus dem Ghetto gibt, die nie befördert wurden. Albert hat einige geschrieben: an seine Schwester in Mülheim und seinen Sohn, an Freunde in Köln.
Im Staatsarchiv Lodz liegen Postkarten, die nie zugestellt wurden
Das wichtigste Dokument für uns ist jedoch Albert Tobias‘ letzter Brief an die Lagerleitung. Albert erhielt Ende April 1942 die Mitteilung, dass er in ein Arbeitslager umgesiedelt werden solle. Die meisten Betroffenen haben geahnt, was das bedeutete. Auch Albert bat um Zurückstellung – mit der Begründung, dass seine beiden Söhne als Soldaten im Felde stünden.
Sein Antrag wurde abgelehnt. Am 4. Mai 1942 hat man den 50-jährigen Albert zusammen mit 1000 weiteren Ghettobewohnern aus Lodz in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert. Es war der Geburtstag seines ältesten Sohnes. Albert wurde wahrscheinlich am nächsten Morgen in einem Lastwagen mit Abgasen ermordet – heute vor genau 70 Jahren. Bis zum 15. Mai zählte man über 10 000 Tote in Kulmhof. Es war nur eine von mehreren Vernichtungswellen.
Aus der anfänglichen Geschichtshausaufgabe ist inzwischen ein umfangreiches Projekt geworden über eine weit verzweigte jüdische Familie aus dem Westerwald. Viele Mitglieder fanden den Tod in Europa, manche konnten nach Übersee auswandern, nur noch wenige leben in Deutschland. Fast täglich kommen neue Puzzlestücke hinzu. Geplant ist ein Artikel über Albert Tobias für das nächste Jahresheft des Bergischen Geschichtsvereins.
Familienschicksal: Nachfahren recherchieren, Solinger Tageblatt vom 5.5.2012
Aktuelle Recherche-Ergebnisse zur Familiengeschichte: tobiasherz.de